Der Chef ist ganz schön von sich eingenommen. Offenbar hält er sich für absolut großartig. Ob er sich auch gern im Spiegel betrachtet? Jedenfalls hält der Vorstand ihn für kompetent und weiß, dass er die Verantwortung für seine Entscheidungen zu tragen bereit ist. Deshalb ist er ja auch zum Abteilungsleiter befördert worden. Aber ist er deswegen auch ein Narzisst?
Charaktereigenschaft oder Krankheit?
Die einleitend genannten Merkmale – großartiges Selbstbild, Freude am Spiegel, Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein – sind einem Test entnommen, der 1979 von Robert N. Raskin und Calvin S. Hall entwickelt wurde, um Narzissmus-Symptome zu erkennen. Das Narcissistic Personality Inventory (NPI-15) enthält 15 (in der Langversion NPI-40 vierzig) Aussagenpaare dieser Art. Anhand der Entscheidung der Kandidaten für die eine oder andere Ausprägung wird eine mehr oder weniger starke Neigung zum Narzissmus transparent. Eine Bewertung ist damit nicht verbunden, erst recht keine Diagnose eines pathologischen Narzissmus, der behandlungsbedürftig wäre. In gewissem Umfang sehen Psychologen Narzissmus sogar als wichtiges Merkmal. In der Arbeitswelt muss eine Führungskraft Ehrgeiz, Willenskraft und Durchsetzungsvermögen mitbringen. Das sind positive Eigenschaften, die wir oft vergessen, wenn wir an einen selbstverliebten Narzissten denken. Vielleicht ist auch einfach das Wort Narzissmus irreführend – wir haben Narkissos aus der griechischen Sagenwelt vor Augen, der starb, nur weil sein Spiegelbild im Wasser von einem herabfallenden Blatt gestört wurde. Die Narzisse, in die er sich daraufhin verwandelte, ist bis heute als Symbol für Auferstehung bei Beerdigungen präsent.
Symptome für eine behandlungsbedürftige Persönlichkeitsstörung
Egal, ob wir den erfolgreichen Chef bewundern oder ob er uns einfach nur nervt – sein subklinischer Narzissmus scheint nicht behandlungsbedürftig. Kennzeichnen für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung sind Symptome, die deutlich darüber hinausgehen. Ein Modell bejaht pathologischen Narzissmus, wenn zwei der Bereiche Identität, Selbststeuerung, Empathie und Nähe gestört sind und diese Störung mit Anspruchshaltung und Selbstbezogenheit einhergeht. Das in den USA verbreitete Klassifikationsverfahren der American Psychiatric Association verlangt die Erfüllung von fünf aus einer Liste von neun Kriterien wie Neid, Arroganz, übermäßige Sucht nach Anerkennung, Wichtigkeitsgefühl, grenzenlose Erfolgsfantasien und überzogenen Ansprüchen an Mitmenschen. Je nach Modell kommt man auf unterschiedliche Zahlen für die Betroffenheit. Im Mittel ist davon auszugehen, dass bei rund 6 % der Menschen eine narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) vorliegt, die über die Pubertät hinaus anhält. Schwerpunktmäßig ist die Altersklasse der Zwanzig- bis Dreißigjährigen betroffen. Die genannten Eigenschaften führen zwar nicht unmittelbar zum Tod wie bei Narkissos, können aber schwere Krisen verursachen, wenn der an einer NPS Leidende seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht genügt. Kritik vom Vorgesetzten oder Verlust des Arbeitsplatzes, der Trennungswunsch eines Partners sind ausreichend, um Depression und Suizidgefährdung, Drogenmissbrauch, Essstörungen oder eine Borderline-Erkrankung auszulösen. Im Mittelpunkt der Behandlung steht zunächst die Bewältigung der akuten Krise. Langfristig müssen dem Narzissten aber die Gefahren seines in der Regel unbewusst ablaufenden Verhaltens deutlich gemacht werden. Gesprächs- und Gruppentherapien haben sich hierzu als erfolgreiche Instrumente bewährt.
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